Wie stoßen die globalen Multikrisen Deutschland tiefer in die Misere – und wie kann die Wende noch gelingen? Ökonom, Berater und Autor Daniel Stelter redet Klartext über den Standort Deutschland. Dies ist die Langfassung des Interviews, welches auszugsweise in Ausgabe 46 der €uro am Sonntag veröffentlicht wurde. Neben dem Reformbedarf in Deutschland thematisiert Stelter auch seine persönliche Geldanlage. 

€uro am Sonntag: Wenn Sie König von Deutschland wären — wie würden Sie das Land sanieren?

Daniel Stelter: Mein Problem mit Ihrer Frage ist: Die Antworten sind eigentlich banal, und die geben im Prinzip auch die Politiker. Herr Habeck hat jüngst seine neue Industriestrategie vorgestellt: weniger Bürokratie, niedrigere Energiepreise, mehr Innovationen, bessere Infrastruktur. Alle sagen das­selbe, alles richtig. Die entscheidende Frage ist: Warum passiert nichts?

Ihre Antwort darauf?

Am Ende gibt die Politik das Geld doch lieber für soziale Wohltaten aus. Und wir haben es mit einer teils umsetzungsunfähigen und umsetzungsunwilligen Verwaltung zu tun.

Wie kommen wir trotzdem voran?

Andere EU-Länder sind viel weiter als wir. Etwa Dänemark bei der Digitalisierung. Sie können dort den Personalausweis und vieles andere online beantragen. Jetzt könnten die deutschen Verwaltungen ihre Software verbessern und ihre Mitarbeiter trainieren. Das macht jedes Bundesland allein, und das dauert ewig. Warum kaufen wir nicht einfach das dänische System und lassen es übersetzen? Das ist vergleichbar mit dem Vorteil von Fintechs gegenüber Traditionsbanken und deren großen Apparaten und über Jahrzehnte aufgebauten Softwarelandschaften — sie fangen schlank und mit der besten am Markt verfügbaren Technologie an.

Da muss man auf der grünen Wiese neu anfangen und nicht versuchen, das ­Bestehende zu optimieren

Bedeutet für Deutschland?

Wir müssen neben die bestehende Verwaltung eine neue setzen, mit einem neuen ­Prozess — und zu einem bestimmten Stichtag geht das live. Lasst uns einfach die Lösungen der Vorbilder übernehmen. Das gilt selbst für die Beschaffung der Bundeswehr. An der Reform des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz hat sich noch jeder die Zähne ausgebissen. Eine Wende hat auch Frau von der Leyen in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin mit zahllosen McKinsey-Beratern nicht geschafft. Da muss man auf der grünen Wiese neu anfangen und nicht versuchen, das ­Bestehende zu optimieren. 

Lasst uns in vielen Be­reichen neu starten, damit der Staat keine Last mehr ist, sondern ein positiver Faktor.

Könnte der Grüne-Wiese-Neustart auch in anderen Bereichen greifen?

Zum Beispiel bei Genehmigungsprozessen. In Deutschland dauert es wesentlich länger als in anderen Staaten, ein Unternehmen zu gründen. Und selbst bei der Energiewende plädiere ich dafür. Die Grünen werden es aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte nie zugeben, dass es ein historischer Fehler war, aus der Atomkraft auszusteigen. Aber es geht jetzt ausdrücklich nicht um Schuldzuweisungen. Noch machen wir uns etwas vor und sagen: Die Energiewende ist günstig, und der Strompreis wird sinken. Wird er nicht. Also sage ich: Lasst uns in vielen Be­reichen neu starten, damit der Staat keine Last mehr ist, sondern ein positiver Faktor. Das wäre ein viel größerer Wandel als die Agenda 2010, die im Kern nur den Arbeitsmarkt betraf.  

Wie sähe Ihre Agenda 2030 aus?

Neben der Verwaltung müssen wir beim ­demografischen Wandel anpacken und den Rückgang der Arbeitsstunden bremsen. Wenn es bis 2035 rund 4,5 Millionen Personen weniger im erwerbsfähigen Alter gibt, sinkt die Zahl der Jahresarbeitsstunden.

Wir müssen die Erwerbsanreize steigern, ­machen aber mit dem Bürgergeld gerade das Gegenteil.

Was könnten wir machen?

Die Boomer könnten später in Rente gehen — was fair wäre, da sie auch eine längere Lebenserwartung haben. Je früher wir damit beginnen, desto besser. Alternative: Die ­Wochenarbeitszeit auf 42 oder 44 Stunden verlängern wie in der Schweiz. Wir müssen außerdem die Erwerbsanreize steigern, ­machen aber mit dem Bürgergeld gerade das Gegenteil. Wir müssten festlegen: Jede Art der Arbeitsaufnahme wird gefördert. 

Auch bei Migranten?

Natürlich. Wir müssen die Zuwanderung an ökonomischen Kriterien ausrichten. Und die Migranten, die schon im Land sind, müssen wir befähigen, möglichst intensiv am ­Arbeitsleben teilzunehmen. 

Was muss noch geschehen?

Deutschland muss mehr investieren, dafür müssen auch die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen. Wir haben an den falschen Stellen gekürzt, es gibt weniger Planer beim Staat, es gibt auch bei den Baufirmen weniger Planer, weil alle gesagt haben: Der Staat fällt als Investor aus. Deshalb ist klarzustellen: Wir haben eine 15-jährige Sanierungs­agenda und danach das Commitment, dauerhaft ausreichend im eigenen Land zu investieren. Dann kann ein Unternehmer seine Kapazitäten danach ausrichten.

Wo besteht noch großer Reformbedarf?

Bei der Bildung. Jeder vierte Viertklässler kann laut der IGLU-Studie so schlecht lesen, dass jetzt schon feststeht: Er wird die Schule nicht erfolgreich absolvieren können. Wir müssen zudem vom Akademisierungswahn wegkommen. Wir haben nichts davon, wenn alle Genderwissenschaften studieren. Wir müssen die Studentenzahl reduzieren und mehr Studierende in die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer bringen.

Lässt sich das alles zeitgleich anpacken?

Die absehbare Überforderung könnte auch eine Chance sein — wenn wir nämlich erkennen, dass der Staat nicht alles machen kann, und so eine grundlegende Reform des Staates erzwungen wird. Wir haben viel zu viele Leute, die Falsches machen, etwa in der ­Sozialversicherung. Seit Jahren sinkt die Zahl der Arbeitslosen, aber die der Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit geht hoch. Wir müssen das alles in Summe angehen und einfach pragmatischer werden.  

Wir müssen jetzt massiv investieren. Und je mehr wir bereit sind zu sagen, dafür nehmen wir auch Schulden auf, desto leichter ist der Umbau

Wie wollen Sie die Bürger für diesen ­Parforceritt gewinnen?

Damit der Wandel funktioniert, muss etwas Positives für sie herauskommen. Ich bin ja kein großer Fan der schwarzen Null und noch weniger ein Fan davon, dass wir als einziges großes Euroland mit niedriger Schuldenquote sparen — das machen die anderen auch nicht. Jetzt müssen wir massiv investieren. Und je mehr wir bereit sind zu sagen, dafür nehmen wir auch Schulden auf, desto leichter ist der Umbau. Ich würde den Umbau immer mit einer Entlastung flankieren, besonders für die unteren und mittleren Einkommen. Wenn die Bürger durch geringere Sozialabgaben oder Steuern mehr Geld in der Tasche haben, haben wir automatisch ein anderes Umfeld. 

Noch einmal zum Umsetzungsproblem: Man bekommt ja die Politiker, die man wählt. Müssen wir Wähler uns an die eigene Nase fassen? Jeder weiß, dass die Kanzlerpartei SPD im Wahlkampf unhaltbare Haltelinien bei der Rente versprochen hat.

Das ist das Grundprinzip der Demokratie. Ein Politiker ist ja ein Mensch, der das Geld anderer Leute für wiederum andere Leute ausgibt. Darum ist es für Politiker immer das Beste, Schulden zu machen, weil sie mehr Geld ausgeben können, als sie einnehmen. Sie knöpfen uns keine hohen Steuern ab, aber verteilen trotzdem Wohltaten. Wir bräuchten dringend mehr Transparenz. 

Wie ließe sich die herstellen?

Die Holländer zum Beispiel haben ein Institut, das immer die Wirkung von Gesetzen ­berechnet, die Kosten und den Nutzen. Wir haben den Bundesrechnungshof, mit dessen Studien nach dem Motto verfahren wird: ­gelesen, gelacht, gelocht. Der Bundesarbeits­minister Hubertus Heil (SPD) sagt: Das ist die Grundrente, dafür können wir mal wenige Milliarden Euro ausgeben. Was er nicht sagt: Das sind wenige Milliarden pro Jahr, aber die Summe steigt in allen Folgejahren. Das Gesetz zieht auf lange Frist Kosten im dreistelligen Milliardenbereich nach sich. Der Minister hat die Bilanz des Staats auf der Passiv­seite verlängert, indem er ein Versprechen gegeben und damit gigantische Milliardenbeträge an künftigen Leistungen induziert hat. Der Staat muss ordentlich ­bilanzieren. 

Der Minister hat die Bilanz des Staats auf der Passiv­seite verlängert, indem er ein Versprechen gegeben und damit gigantische Milliardenbeträge an künftigen Leistungen induziert hat.

So transparent wie eine börsennotierte ­Aktiengesellschaft?

Ja. Hätten wir eine Bilanz gehabt, hätte Wolfgang Schäuble (CDU) nicht von der „schwarzen Null“ sprechen können. Er hätte nämlich jedes Jahr bewiesen, wie das Nettovermögen des Staats geschrumpft ist. Die Aktiva sind verfallen, und die Passiva sind gestiegen — Rente mit 63, Mütterrente et cetera. Jeder hätte gesehen, dass das Land abgewirtschaftet wurde. 

Dabei bräuchte das Land eine starke ­Wirtschaft — zum Beispiel auch als Basis für eine stärkere Verteidigung.

In der Tat, für die Verteidigung, für die Klimapolitik, für das Bildungssystem. Die Basis ist ein wachsender Kuchen — der wächst aber nicht mit einer Viertagewoche bei ­vollem Lohnausgleich. Weiter als mit einer solchen Forderung kann man sich von der Realität gar nicht entfernen.

Wie viel Zeit bleibt noch für die großen ­Reformen?

Ich habe das Zeitfenster zuletzt mit drei bis vier Jahren angegeben — viele glauben, dass noch weniger Zeit bleibt. In zwei Jahren ist ja schon wieder Bundestagswahl. Und danach? In weiten Teilen der Politik fehlt die Erkenntnis der Dringlichkeit und des Umfangs des Sanierungsprogramms. Dennoch gibt es ein unglaubliches Vertrauen in den Staat — das finde ich wirklich faszinierend. 

In weiten Teilen der Politik fehlt die Erkenntnis der Dringlichkeit und des Umfangs des Sanierungsprogramms

Wie erklären Sie diese Staatsgläubigkeit?

Ich kann sie mir eigentlich nur damit er­klären, dass wir historisch gesehen einen sehr leistungsfähigen Staat hatten. Die ­preußische Verwaltung war in den 1870er-, 1880er-Jahren das Vorbild in der ganzen Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bundesre­publik ein Vorbild.

Lange her.

Heute ist der Staat nicht einmal in der Lage, Geld auszuzahlen — obwohl jeder mit der ­Geburt seine Steuer-Identifikationsnummer erhält. Das kontrastiert mit der Hybris der Politik, die glaubt, alles bis in die kleinsten Verästelungen regeln zu können. Das würde man den Politikern nicht durchgehen lassen, wenn mehr wirtschaftliches Verständnis herrschen würde. Beispiel Wohnungsmarkt Berlin: Am ersten Samstag demonstrieren die Bürger für offene Grenzen, wir haben ja für alle Platz. Am nächsten Samstag demonstrieren sie am Tempelhofer Feld gegen den Bau von Wohnungen. Und am folgenden Samstag demonstrieren sie gegen Mietenwahnsinn. Wir müssen also die Bürger ­generell auch mehr ökonomisch schulen.

Heute ist der Staat nicht ­einmal in der ­Lage, Geld ­auszuzahlen – obwohl jeder mit der Geburt seine Steuer-Identifikationsnummer erhält.

Deutschland bewegt sich im Verbund der EU. Was muss hier geschehen?

Wenn Deutschland weiter schwächelt und dann eben die Transfers nicht mehr leisten kann, bricht unter Umständen ein wichtiger Baustein der EU weg. Deutschland sollte wie gesagt nicht als Mitglied der Europäischen Währungsunion sparen. Wir sollten überdies einen Staatsfonds wie Norwegen einrichten und auch im großen Stil mit ­neuen Staatsschulden finanzieren. Wenn wir das Geld global anlegen, werden wir nach ­Inflation garantiert mehr erwirtschaften, als wir an Zinskosten aufbringen müssen. Und wir sollten erst einmal unsere eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. 

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Im Koalitionsvertrag steht: Wir betrachten die deutschen Interessen immer im Kontext der europäischen Interessen. Das tut sonst wohl niemand. Die italienischen Politiker vertreten die eigenen Interessen hervorragend und machen Politik für die Italiener. Sie kommen gar nicht auf die Idee, eine Vermögensabgabe oder Vermögensteuer zu erheben, um eigene Staatsschulden zu senken — obwohl die Italiener im Schnitt weitaus höhere Vermögen besitzen als die Deutschen. Denn sie erhalten die Transfers aus Europa, allein 200 Milliarden Euro aus dem sogenannten Corona-Fonds. Wir sollten generell mehr darauf drängen, dass die Länder ihre Probleme selbst lösen. Und dann plädiere ich bei den Schulden für einen wirklich ­großen Schritt. 

Warum muss die EU uns Vorgaben für die Gebäudeeffizienz machen?

Wie sieht Ihr Vorschlag aus?

Ich sage: Lasst uns auf europäischer Ebene die existierenden Staatsschulden poolen. Wir könnten unsere Staatsschulden, 70 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), komplett auf die EU übertragen. Die Italiener könnten etwas mehr übertragen und so fort. Das könnte über die nächsten 100 Jahre ­gemeinsam abgestottert werden. Deutschland hätte danach null Schulden, Italien vielleicht 70 Prozent vom BIP, alle hätten neue Spielräume. Das funktioniert nur in Verbindung mit einer strikten No-Bail-out-Klausel: Jeder Staat bleibt für die Rückzahlung seiner Schulden selbst verantwortlich. Dann wäre Deutschland schuldenfrei, und wir könnten noch einmal neu anfangen. Zugleich würde ich dafür sorgen, dass die EU sich nicht überall einmischt. Warum muss die EU uns Vorgaben für die Gebäudeeffizienz machen? Sinnvoll ist: Wir machen den CO2-Emissionshandel auf EU-Ebene. Dann kann sich jeder auf steigende Preise etwa für Gas einstellen und überlegen, welche Technologie die effizienteste Lösung bietet.

Wie frustrierend ist es, seit Jahren Lösungen zu beschreiben — und nichts geht voran?

Ich kämpfe weiter. Für den Wandel brauchen wir die Bürger, die sagen: Wir lassen euch in der Politik zum Beispiel das Märchen vom billigen Bürgergeld nicht mehr durchgehen. Und wir sehen ja auch an den Wahlergebnissen, dass eine zunehmende Zahl von Leuten das nicht mehr glaubt. Wir müssen die Poli­tiker zu mehr Ehrlichkeit zwingen. 

Wie legen Sie eigentlich Ihr Geld an?

Da ich nicht an die schnelle Wende in Deutschland und der EU glaube: Man sollte wie der Staatsfonds Norwegen anlegen, global diversifiziert in Aktien, und kann Immobilien und Rohstoffe dazumischen. Kein Geld in Staatsanleihen, weil ich dort auf Dauer ­negative Realzinsen sehe — sonst kriegen die Staaten die Verschuldungsprobleme nicht in den Griff. Ich investiere global, weil es in anderen Regionen der Welt vorangehen wird — in Deutschland nicht unbedingt.