Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds schickt weiter Schockwellen durchs politische Berlin und die Wirtschaft. Welche Schattenhaushalte nun auch wackeln, wie die Entscheidung der Richter die Konjunkturprognosen für die Bundesrepublik beeinflusst und was von Überlegungen, die Schuldenbremse aufzuheben, zu halten ist, darüber sprach €uro am Sonntag mit dem Chefvolkswirt der Commerzbank, Dr. Jörg Krämer.

€uro am Sonntag: Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mittwoch vergangener Woche dürfen Kreditermächtigungen von 60 Milliarden Euro nicht auf den Klima- und Transformationsfonds (KTF) übertragen werden. Konkret betrifft es aber nur Ausgaben, die nicht durch andere Einnahmen gedeckt sind. Wie groß ist die tatsächliche Lücke im Jahr 2024?
Dr. Jörg Krämer: Die Lücke ist tatsächlich kleiner, da der Klima- und Transformationsfonds noch eigene Einnahmen erzielt, zum Beispiel aus der Bepreisung von CO2 und dem Zertifikatehandel. Laut Bundesbank fehlen im Bundeshaushalt 29 Milliarden Euro. Da wohl weitere Schattenhaushalte wie der Wirtschaftsstabilisierungsfonds vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffen sind, kommt die Bundesbank für 2024 insgesamt auf eine Haushaltslücke von 52 Milliarden Euro – eine beträchtliche Summe.

Vergangene Woche hat Robert Habeck Pläne für ein Wasserstoff-Kernnetz vorgestellt. Kostenpunkt knapp 20 Milliarden Euro, die der Bund vorstrecken wollte. Droht Deutschland nun, bei diesem Energieträger der Zukunft ins Hintertreffen zu geraten?
Wenn die Bundesregierung die Haushaltslücke nicht auf anderen Wegen schließen kann, wird sie grundsätzlich über die Klimapolitik nachdenken müssen. Da gibt es zwei Vorgehensweisen: Zum einen kann man im Rahmen des Zertifikatehandels auf einen CO2-Preis setzen. Das ist der preiswerteste Weg, weil der CO2-Preis teure von günstigen Investitionen zur Vermeidung von CO2 trennt. Ich werde keine Tonne CO2 einsparen, wenn die entsprechende Investition 100 Euro kostet und ich für 60 Euro ein Zertifikat erwerben kann, das zum Ausstoß von CO2 berechtigt. Umgekehrt werde ich kein Zertifikat für 60 Euro kaufen, wenn ich die Tonne CO2 für 20 Euro reduzieren kann. Der andere Ansatz ist, dass der Staat vorschreibt, wie CO2 einzusparen ist – etwa über das Heizungsgesetz, Dämmvorschriften oder das Verbot von Verbrennungsmotoren. Das ist in der Regel teurer, weil Politiker und Beamten nicht besser als die Bürger wissen können, wie eine Tonne CO2 am günstigsten eingespart werden kann.

Auch das vor eineinhalb Wochen präsentierte Strompreispaket sollte aus KTF-Mitteln finanziert werden. Welche Auswirkungen für die deutsche – insbesondere die energieintensive – Industrie erwarten Sie?
Die Bundesregierung senkt den Strompreis für einzelne industrielle Großverbraucher massiv und setzt dabei faktisch auf Subventionen. Das ist teuer, und es kann sein, dass das Geld dafür nicht mehr da ist. Aber das eröffnet auch eine Chance, über andere Wege in der Strompolitik nachzudenken. Die beste Strategie ist ohnehin nicht eine Umverteilung des Strommangels, sondern eine Steigerung der Stromproduktion. Wir brauchen wettbewerbsfähige Strompreise nicht nur für wenige Großunternehmen, sondern für alle Unternehmen. In dem Zusammenhang ist es nur schwer verständlich, warum die Kernenergie abgeschaltet wurde.

Weniger Haushaltsmittel können zu einem Umdenken in der Klima- und Industriepolitik führen.

Auch die Subventionen für die Chip-Werke von Intel und TSMC sollten aus dem Klima- und Transformationsfonds kommen. Zerbröselt hier gerade die Fantasie eines Halbleiterstandorts Deutschland?
Auch hier muss sich erst zeigen, ob das Geld dafür ausreicht. Es stellt sich ohnehin die Frage, ob Deutschland in einen Subventionswettbewerb einsteigen soll, der am Ende dazu führen könnte, dass weltweit zu viele Chips produziert werden. Da wäre es doch günstiger, die Chips in Ländern einzukaufen, die sie subventionieren. Das sind ja nicht nur unzuverlässige Länder, sondern zum Beispiel auch die USA, unser Hauptverbündeter. Natürlich ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für viele Politiker ein Schock und schafft für viele Unternehmen Planungsunsicherheit. Auf der anderen Seite kann die Aussicht auf weniger Haushaltsmittel zu einem Umdenken in der Klima- und Industriepolitik in Richtung wirtschaftlicherer Lösungen führen.

Wenn es doch die wirtschaftlicheren Lösungen sind, wieso arbeitet die Politik dann nicht von Anfang auf diese hin?
Die drei Ampel-Parteien haben sehr unterschiedliche Vorstellungen, wenn man etwa an die Klimapolitik der Grünen und die FDP denkt. Diese Konflikte konnte man lange durch mehr Geld und durch mehr Subventionen entschärfen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist das kaum noch möglich.

Mit Blick auf Subventionen wird aktuell von der Ampel wiederholt auf die USA verwiesen, die mit dem Inflation Reduction Act den Umbau ihrer Wirtschaft vorantreiben wollen. Hat sich die deutsche Politik einfach ungeschickt angestellt?
Es wird immer viel vom Inflation Reduction Act gesprochen. Aber auch in der EU werden massiv Subventionen gezahlt. Außerdem machen Subventionen alleine keinen guten Standort aus, weil sie Ressourcen letztlich nur von einer Industrie zur anderen verschieben. Wenn Sie gute Rahmenbedingungen für die gesamte Wirtschaft wollen, können Sie das nicht einfach durch Subventionen erreichen, sondern müssen den beschwerlichen Weg von Strukturreformen auf sich nehmen. So müssen die quälend langen Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Dazu müssen Sie Mitwirkungsrechte und Umweltverträglichkeitsprüfungen straffen und sich mit gut organisierten Umweltverbänden anlegen. Kurzum: Wenn man den Wirtschaftsstandort Deutschland attraktiver machen will, muss man viele Konflikte auf sich nehmen. Das ist schwieriger, als Subventionen zu zahlen.

Für die USA kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die Zinsen ab der Jahresmitte gesenkt werden.

Im BMWi rechnet man Insidern zufolge damit, dass ein Wegfall von Investitionsmitteln nach ersten Schätzungen das deutsche Wirtschaftswachstum 2024 um etwa einen halben Prozentpunkt geringer ausfallen lassen könnte. Teilen Sie diese Einschätzung?
Bisher rechnet die Bundesregierung für 2024 mit einem Wachstum von 1,3 Prozent. Das ist ohnehin zu optimistisch. Der Sachverständigenrat geht nur von 0,7 Prozent aus, der Durchschnitt der monatlich befragten Volkswirte von 0,5 Prozent. Und wir als Commerzbank-Research rechnen sogar mit einem Minus von 0,3 Prozent. Das eigentliche Konjunkturproblem ist nicht das Urteil der Verfassungsrichter, sondern der zurückliegende Inflationsschock, der die Zentralbanken weltweit zu einem massiven Anstieg der Leitzinsen gezwungen hat. Wir haben es mit einem neuen Zinsregime zu tun und nicht nur mit einer Zinserhöhung, die nächstes Jahr wieder rückgängig gemacht wird. Die Unternehmen haben also viel zu verkraften – zumal Energie dauerhaft viel teurer geworden ist und die Standortqualität Deutschlands seit fünfzehn Jahren erodiert.

Apropos Zinsregime: In den USA gehen Investoren davon aus, dass im kommenden Jahr die Zinsen wieder sinken werden. Sehen Sie das ähnlich und welche Erwartungen haben Sie für Europa?
Für die USA kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die Zinsen ab der Jahresmitte gesenkt werden. Anders sieht es im Euroraum aus, da die EZB bei Weitem nicht so stark erhöht hat wie die Fed und auch später begonnen hat. Das unterliegende Inflationsproblem im Euroraum ist noch gar nicht gelöst, weshalb es wenig Spielraum gibt, die Zinsen zu senken. Deswegen spreche ich, insbesondere mit Blick auf den Euroraum, von einem völlig neuen Zinsregime.

Neben dem Klima- und Transformationsfonds gibt es noch weitere 28 „Sondervermögen“ des Bundes. Die Union hat angekündigt, Klagen zu prüfen. Welche dieser Schattenhaushalte könnten nun ebenfalls wackeln und warum?
Insbesondere der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds für Energie, weil dort dasselbe Muster angewendet wurde wie beim KTF. Nämlich, dass die Schuldenaufnahme in dem Jahr gebucht wurde, in dem die Schuldenbremse ausgesetzt war. Damit würden die Ausgaben, die in Jahre fallen, in denen die Schuldenbremse wieder gelten soll, nicht auf sie angerechnet werden. Das ist eine Umgehung der Schuldenbremse und einer der drei Gründe, warum das Bundesverfassungsgericht den KTF verboten hat. Genau diese Umgehung findet auch beim Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds statt. Würde auch er verboten, würde das ein weiteres Loch von 14 Milliarden Euro in den Haushalt 2024 reißen.

Eine Umgehung der Schuldenbremse ist mit dem BVerfG-Urteil deutlich schwieriger geworden. Unter anderem fordert nun die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, ihre Aufhebung, andere zumindest eine Reform. Glauben Sie, dass es so weit kommt und wie sinnvoll wäre das?
Die Schuldenbremse ist gut. Sie ist im Übrigen flexibel genug. Steigt das Haushaltsdefizit wegen einer schlechten Konjunktur, dann darf die Bundesregierung entsprechend mehr Schulden machen. Letztlich ist die Schuldenbremse wichtig, weil sie verhindert, dass der Staat zu hohe Schulden aufnimmt und in Zukunft wegen hoher Zinszahlungen an Handlungsfähigkeit einbüßt. Außerdem zwingt die Schuldenbremse den Staat, Ausgaben zu priorisieren. Das verhindert, dass der Staat immer mehr Ressourcen zulasten des privaten Sektors an sich zieht. Die Schuldenbremse sichert dem Privatsektor Entfaltungsraum; das ist in einer liberalen Wirtschaftsordnung sehr wichtig.

In der zweiten Jahreshälfte könnte es wieder besser werden.

Für wie widerstandsfähig halten Sie die deutsche Wirtschaft, um solche Schäden abzufangen?
Wir haben in Deutschland viele tolle Unternehmen, gerade im Mittelstand. Sie sind auch sehr resilient. So haben sie ihre Eigenkapitalquote in den zurückliegenden 20 Jahren von 20 auf 30 Prozent erhöht. Allerdings sollte man die Unternehmen nicht überfordern. Sie verdienen bessere Rahmenbedingungen, damit sie ihre guten Löhne und Steuern weiter hier und nicht im Ausland zahlen.

Lassen Sie uns nach den Mittelständlern auch noch auf die Konzerne blicken: Insbesondere die Unternehmen im DAX haben in den letzten Jahren massiv Schulden angehäuft. Könnten diese Schuldenberge vor dem Hintergrund des neuen Zinsregimes zu einer Gefahr werden?
Ich sehe keine Gefahr, aber die Unternehmen brauchen natürlich Zeit, das neue Zinsregime und die anderen Probleme zu verdauen. Man kann nicht erwarten, dass es nach einer milden Rezession eine V-förmige Erholung geben wird. Das gilt umso mehr, als die Verbraucher deutlich ärmer geworden sind. Die Verbraucherpreise sind seit Ende 2020 um 18 Prozent gestiegen, die Löhne aber nur um zehn Prozent. Das ist ein Rückgang der Reallöhne um acht Prozent. So etwas sieht man selten in der Wirtschaftsgeschichte.

Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund den DAX im kommenden Jahr?
Wir machen keine Punktprognosen, aber für dieses Jahr sieht es ganz ordentlich aus, sollte nicht noch eine böse Überraschung dazukommen. Aber es wird im kommenden Jahr für die Unternehmen schwieriger, die hochgesteckten Gewinnerwartungen der Analysten zu erfüllen. Denn wir rechnen sowohl für den Euroraum als auch für die USA mit einer Rezession. Das spricht für weiter volatile Börsen. Allerdings könnte es in der zweiten Jahreshälfte wieder besser werden, wenn die Anleger zunehmend durch die Rezession hindurchschauen und die US-Notenbank ihren Leitzinsen senkt.